Julien Freund
Europa im Niedergang?
– Essays zum neuen und alten Europa
Europa im Niedergang?
Wer ist der Feind der europäischen Zivilisation und der Werte, die sie repräsentiert? Sollten wir uns mit dem Niedergang abfinden? Der Niedergang besteht nicht aus einem gleichmäßig beschleunigten Fall, d.h. er verläuft nicht entlang eines gleichmäßigen Verlaufs eines Hanges. Dekadenz gehorcht keinem physikalischen Gesetz, denn sie bleibt den Wechselfällen menschlicher Vorsätze und Bestimmungen unterworfen. De Gaulle und Churchill haben unter diesem Gesichtspunkt eine paradigmatische Arbeit geleistet. Sie waren beide von einem Gefühl der drohenden Dekadenz getrieben, aber gleichzeitig unternahmen sie fast übermenschliche Anstrengungen, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten und auf Kosten der Aufopferung eine riskante Situation zu überwinden. Vielleicht haben sie sogar ihre Energie aus dieser Klarheit gewonnen, die die Qualen ignorierte. In der Tat folgt die Geschichte nicht einem zwangsläufigen Verlauf, denn sie ist ständig voller Überraschungen, die aus Remissionen, Aufschüben und mehr oder weniger nachhaltigen Steigerungen bestehen können. Große Worte sind in diesem Fall nutzlos, wenn die konkrete Maßnahme nicht darauffolgt. Im Gegenteil, es ist notwendig, die Kraft des Geistes und der Hartnäckigkeit zu haben, die einzigen Qualitäten, die uns befähigen, das Gewissen zu erwecken und es in den Wunsch zu ziehen, sich selbst zu übertreffen. Wir fordern nicht Heldentum, sondern die Ablehnung der Gemeinheit der Alltagspolitik, denn, wie Max Weber sagte, „wir hätten nie das Mögliche erreichen können, wenn wir in der Welt nicht immer und ununterbrochen das Unmögliche angegangen wären“.
Aus dem Vorwort
Im Rahmen eines Vorworts kann man nicht in die analytische Diskussion eines Wälzers einsteigen, der hin und wieder redundante Passagen und Wiederholungen enthält. Man kann lediglich einige Begriffe, die dem Leser verwirrend erscheinen, aufgreifen und denselben einige Unterscheidungen beifügen, um ihren Sinn zu präzisieren. Dies gilt auch für den Begriff der Dekadenz. Freund spricht ohne Unterschied von Rückgang und Niedergang. Es handelt sich hierbei aber um unterschiedliche Gedanken. Für eine Gesellschaft ist der Niedergang zerstörerisch und irreversibel, selbst wenn sich auf seinen Ruinen ein neues Gemeinwesen konstituiert. Der Rückgang ist demgegenüber relativ und aufhaltbar. Er ist gebunden an den Aufstieg anderer Gesellschaften, die beherrschend werden, nicht nur als Mächte, sondern genauso gut als Modelle. Kann man Europa nunmehr betrachten als im Niedergang oder nur im Rückgang befindlich? Im Niedergang ist es sicherlich nicht. Ist es nicht heute gerechter, solidarischer, wohlhabender und bietet es seinen Bürgern nicht mehr Entwicklungspotential an als noch vor einem Jahrhundert? Ist es nicht mehr wert, Bürger eines Staates zu sein, der frei ist, statt mehr oder weniger Untertan in einem feudalen Königreich zu sein?
Der Autor Julien Freund
Julien Freund (1921-1993) war ein französischer Politikwissenschaftler und Soziologe. Er gilt als Vordenker des Konservatismus. Freund wurde wesentlich durch Max Weber, Georg Simmel, Vilfredo Pareto und vor allem Carl Schmitt beeinflusst und trug dazu bei, ihre Gedanken in Frankreich bekannt zu machen. Bekannt wurde Freund vor allem durch sein Buch L’essence du politique (Das Wesen der Politik), dessen wesentliche Thesen bereits aus seiner Doktorarbeit stammen, die er 1965 bei Raymond Aron eingereicht hatte. Der Philosoph Jean Hyppolite zog es vor, die Arbeit abzulehnen, da er sich nicht den Ruf zuziehen wollte, Freunds Thesen zu unterstützen. Beeinflusst durch Schmitts Fragestellungen versuchte Freund, die Grundkategorien des Politischen zu analysieren, die er in der dreifachen Beziehung zwischen Gehorsam und Befehl, Freund und Feind sowie Öffentlich und Privat sah.
Leseprobe
EUROPA IM NIEDERGANG? Auf diese Frage antworte ich ohne Zögern mit ja. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein Urteil ohne Berufung, sondern um eine Beurteilung, die sich auf eine kritische Interpretation gewisser historischer Fakten stützt. Da es sich zudem um eine Interpretation handelt, verstehe ich nur zu gut, dass sie jene schockiert oder gar in Aufruhr zu bringen vermag, die sich für die Jünger des unbeschränkten Fortschritts halten. Immerhin vermag ihr Aufbegehren nichts anderes sein als eine Interpretation ihrerseits, die sich an anderen Bezugspunkten orientiert. In der Tat gibt es genauso wenig einen absoluten Niedergang wie es einen absoluten Fortschritt gibt. In beiden Fällen müssen wir zwischen Bezugspunkten, allerdings unterschiedlichen Bezugspunkten, wählen. Wenn man also das Problem als solches stellt, bedeutet dies, dass man eine möglichst sachgerechte Auswahl der Elemente der Interpretation trifft und hierbei ideologische Bekenntnisse genauso wie parteiliche Voreingenommenheit vermeidet.
Kurzübersicht
- ISBN: 978-3-9820256-0-5
- Sachbuch
- deutsche Ausgabe
- Printausgabe Softcover
- Erscheinungsdatum: 1. Aufl. / 2020
- 160 Seiten
- Format: 11,5 x 19 cm